© Dr. Marie Luise Doblhofer

Kinder und Krieg

In diesen Wochen gehen die Bilder des Irak-Krieges um die Welt, und wir können weder uns noch unsere Kinder abschotten. Also gilt es, Stellung zu beziehen. Wie können wir mit dem Thema „Krieg" umgehen? Zumal die blutigen Bilder eine andere Sprache sprechen als uns die Amerikaner vor Beginn des Krieges weismachen wollten.

Es ist empfehlenswert, das Thema gezielt aufzugreifen und nicht zu warten, bis Kinder Fragen stellen. Zaghafte Personen meinen, sie könnten dadurch Schaden in der kindlichen Seele anrichten. Tatsächlich schadet es dem Kind mehr, so zu tun, als lebten wir in einer heilen Welt, während die Medien tagtäglich vom Gegenteil berichten. Allerdings sollten Eltern und Pädagogen das Kind dort abholen, wo es in seiner Entwicklung, Information und Emotionalität gerade steht. Das erfordert natürlich ein gewisses Maß an Fingerspitzengefühl.

Es kann eine große Beruhigung sein, dem Kind zu sagen, du bist hier in Österreich, das zu den sichersten Länder der Welt zählt, und wir können für deinen Schutz und deine Sicherheit sorgen.

Lassen Sie vor allem kleinere Kinder nie allein vor dem Fernseher sitzen! Sie können die Geschehnisse nicht einordnen – wo realer Zugang fehlt, sorgt die Fantasie für Schreckensszenarien. Erwachsene können über den Krieg diskutieren, Weltanschauungen austauschen, sie haben Abwehrmechanismen entwickelt. Nicht so die Kinder: Auf sie prasseln die Schreckensbilder nieder und verursachen Langzeitfolgen und -schäden.

Kriegsstress –auch via Fernsehen vermittelt – geht auf unsere Kinder über. Mögliche Folgen sind Einschlafprobleme, Angstträume, Trennungsängste, Aggression, Essensverweigerung, Depression und dergleichen mehr.

Aber nicht nur österreichische Kinder brauchen Betreuung und Ansprechpartner. In unseren Schulen gibt es viele Kinder aus Ex-Jugoslawien, Kurden, Türken, die Krieg am eigenen Leib erfahren haben und durch die aktuellen Ereignisse im Irak Retraumatisierungen erleben können – Erwachsene natürlich auch. (Eine 85-jährige alte Dame aus Wels erzählte, wie sie in Angst und Schrecken verfiel, als die ersten Bomben auf Bagdad fielen: Die bis dahin verdrängten Erlebnisse des 2. Weltkrieges tauchten ohne Vorwarnung in ihr Bewusstsein mit all den damals verbundenen Gefühlen des Ausgeliefertseins).

Eltern-Kind-Beziehungen sind in Kriegs- und Verfolgungszeiten physischen und psychischen Extrembelastungen ausgesetzt. Innerhalb der Familie wird das Beziehungsgeflecht vollständig umgekrempelt. Dazu kommen Trauer um die Vermissten und Toten, Sorge um die Hinterbliebenen, ums nackte Überleben, elterliche Schuldgefühle den Kindern gegenüber, weil man sie nicht genügend beschützen konnte. Die Sorgen auf der Flucht oder im Exil behindern Trauerarbeit; Mütter wollen bzw. müssen Väter ersetzen, sind in der Erziehung allein gelassen; kulturelle Veränderungen im Gastland führen zu dramatischen Veränderungen in der Gefühlswelt Durch die noch nicht ausreichend entwickelten Abwehrmechanismen sind Kinder noch mehr als Erwachsene den Folgen von Kriegstraumata ausgeliefert.

Es seien hier nur einige Beispiele genannt, um uns für Kriegs- und Flüchtlingsschicksale zu sensibilisieren:

bulletEine Familie flüchtet, der Mann wird auf der Flucht erschossen, die hochschwangere Frau kommt durch und bringt in der Fremde ihr Kind zur Welt.
bulletEine andere Familie mit zwei Kleinkindern flieht mit Hilfe von Schleppern in einem Kühlwagen in acht Tagen vom Iran nach Österreich.

Haben Kinder Krieg und Flucht bewusst erlebt, spüren sie sehr genau, dass trotz Überlebens gewisse Themen den Eltern gegenüber nicht angesprochen werden dürfen, weil diese sonst zusammenbrechen würden. Daher werden bedrohende Inhalte aus dem Bewusstsein abgespalten. Wenn Kinder also äußerlich relativ unauffällig bleiben und nach außen hin kaum Reaktionen auf Traumata zeigen, so kann das im Moment für die ebenfalls betroffenen Erwachsenen entlastend sein, sie mögen sich aber nicht davon täuschen lassen. Es gibt immer Gründe, die es Kindern unmöglich machen, ihren Schmerz zu zeigen und auszuleben.

Kinder lernen in der Regel die Sprache des Aufnahmelandes schneller als ihre Eltern und werden nicht selten Vermittler zwischen Eltern und Außenwelt und fungieren als Dolmetsch bei Arzt- und Behördengängen. Versäumnisse in der Schule sind die Folge.

Die in der Pubertät einsetzenden entwicklungsbedingten Ablösungsprozesse lösen auf Seiten der Eltern Verlustängste und Schuldzuweisungen aus: Sie haben den Kindern eine sichere Zukunft in einem sicheren Land ermöglicht und jetzt wenden sich diese Jungen von ihren Rettern ab. Hier wirkt also schon ein normaler Entwicklungsprozess traumatisierend, weil er in einem ganz anderen Kontext gesehen wird.

Der Kindertherapeut Bruno Bettelheim sagte in diesem Zusammenhang: Es ist schwer, sich gegen Eltern aufzulehnen, deren Welt in Brüche gegangen ist. Er muss es wissen, er ist vor den Nazis geflohen.

Der Wunsch der nicht österreichischen Jugendlichen, sich dem Gastland anzupassen, auch andere Werte als die der Eltern zu leben, gelingt nicht immer. Statt in zwei Kulturen beheimatet zu sein, fühlen sie sich oft genug zwischen zwei Welten zerrissen.

Nathan Kellerman zeigte am 3. Weltkongress für Psychotherapie in Wien sehr eindrucksvoll auf, dass Traumata nie aufhören, denn sie sind Generationen übergreifende Verletzungen. Wir in Österreich wissen das aus eigener Erfahrung: Die erste Generation spricht nicht über das Trauma, um psychisch zu überleben; die zweite Generation merkt am Verhalten der ersten Generation, dass da „etwas gewesen sein muss, dass da etwas nicht stimmt"; erst die dritte Generation wagt sich an das unausgesprochene aber atmosphärisch immer allgegenwärtige Trauma heran: In der Literatur, im Film, in der Politik, durch Wiedergutmachungsbestrebungen.

Krieg verändert die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern nachhaltig! Die Langzeitschäden, so genannte „schlafende Schäden", hinterlassen tiefe Spuren in der Psyche des Kindes . Sie können tief verdrängt sein, wenn aber eine leise Erinnerung an das Trauma rührt, kann dieses wieder aufbrechen.

Da es Menschen in unserem Land gibt, die schwerste Traumata erleben mussten wie z.B. Massenvergewaltigungen, Zwangsgeburten, Auslandsadoptionen, schwerste Verwundungen an Leib und Seele,

Beraubung der individuellen und kulturellen Identität, so kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft – also wir alle – Kindern und ihren Familien gesicherten Raum und Schutz bieten und den psychischen, soziokulturellen und rechtlichen Situationen besondere Beachtung schenken muss.